Der verlorene
Sohn

Mit Friedrich Engels hat Wuppertal einen weltberühmten Sohn. Die vielen Veranstaltungen, mit denen Friedrich Engels 2020 zu seinem 200. Geburtstag geehrt wird, sollen den Menschen Engels mit all seinen Facetten abbilden. Eine Ehre, die dem Revolutionär in seiner Heimatstadt im Alltag verwehrt bleibt.

2020 feiert Wuppertal seinen wohl bekanntesten Sohn. Den Mann, der zu Lebzeiten aus der Stadt verbannt wurde, weil er für die Arbeiterbewegung auf die Barrikaden ging. Den Mann, den es eigentlich nie lange in seiner Geburtsstadt hielt, der lieber alle möglichen Länder der Welt bereiste. Den Mann, der zusammen mit seinem Freund aus Trier den Kommunismus erfunden und propagiert hat. Dieser weltberühmte Revolutionär aus dem einst ebenso weltberühmten Barmen kommt im Alltag der Wuppertaler quasi nicht vor. Das soll sich im nächsten Jahr ändern.

Unter dem Titel „Engels2020 – Denker, Macher, Wuppertaler“ wird die Stadt ihren Sohn ein Jahr lang ehren. Und alle machen mit. Die Liste an Veranstaltungen ist lang und – vor allem – vielfältig. So vielfältig wie Friedrich Engels selbst. Das Ziel ist es, den Wuppertaler von allen Seiten zu beleuchten. Denn der Barmer war kein Mensch, den man in wenigen Worten beschreiben kann. Er hatte viele Talente und vielleicht noch mehr Ecken und Kanten. Sein Thema war nicht nur der Kommunismus, er war Vordenker, Philosoph, Journalist, Wissenschaftler, Atheist, Lebemann, Gesellschaftsanalytiker und -kritiker, Historiker und Revolutionär. Und natürlich Wuppertaler.

Friedrich Engels war offen, neugierig und kommunikativ. Er war einer, der den Mund aufgemacht hat, der sich getraut hat, soziale Ungerechtigkeiten zu benennen und auch entsprechend zu handeln. Er war Weltbürger, hoch gebildet und – dank seiner Herkunft – wohlhabend. Der Sozialkritiker Engels war darüber hinaus auch ein echter Macher, wie man heute sagen würde. Er war ein erfolgreicher Unternehmer. Nur dank seiner finanziellen Mittel konnte er Karl Marx und seine Familie dauerhaft unterstützen. Engels hat damit genau das getan, was bis heute – gerade in Wuppertal – zum guten Ton gehört: soziales und kulturelles Unternehmens-Sponsoring. Friedrich Engels hat Ideale und gesellschaftliche Utopien entwickelt. Seine Ideen und Erkenntnisse haben bis heute Bestand. Auch wenn die heutigen Verhältnisse in Europa freilich nicht mit denen der Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert zu vergleichen sind, so scheint sich in manchen Arbeitsbereichen diesbezüglich relativ wenig getan zu haben. Auch das Konzept vom Privatbesitz und der Profitmaximierung erfreut sich rund um den Globus bester Gesundheit. Die von Marx und Engels kritisierte Entfremdung von der Arbeit durch Arbeitsteilung hat gewissermaßen einen neuen Höhepunkt erreicht. Und der nächste Schritt in Sachen Automatisierung schleicht sich bereits in unseren Alltag ein. Stichwort: Machine Learning beziehungsweise Künstliche Intelligenz. Nach der Hardware, also den Maschinen, die seit der Industrialisierung perfektioniert wurden und bis heute werden, ist es nun die Software, die unser Leben – am Arbeitsplatz wie in der Freizeit – verändert. Was hätte Engels wohl dazu gesagt?

Vernetzung
Was die weltweite Revolution der Arbeiter angeht, so lagen die Urheber des kommunistischen Manifests offenbar falsch. Keine Spur von einer Machtübernahme des Proletariats. Was hingegen ohne Zweifel stattgefunden hat, ist die globale Vernetzung. Nur sind es gerade jene Mächte, die es laut Marx und Engels zu bekämpfen galt, die die Kontrolle übernommen haben. Über die Produktionsmittel, über die Kommunikationsmittel, über das Kapital. Die kommunistische Prophezeiung vom Befreiungsschlag der Arbeiterklasse ist ausgefallen. Vorerst.