Hüter des Hutes

Die „Only Hut“-Konzerte im Mirker Bahnhof haben mittlerweile Kultstatus erreicht. Wer hier regelmäßig hingeht, vertraut auf das musikalische Gehör von Johannes Schmidt.  

Johannes Schmidt wurde früher Jojo genannt, jetzt eher Hannes. Das habe sich mit der Zeit einfach so entwickelt, sagt er. Genau wie sein Job beim Projekt Utopiastadt. Der 23-Jährige ist gemeinsam mit seinem Kollegen Julian Dell und einigen anderen Helfern für die Planung und Durchführung der Konzerte auf dem Gelände an der Nordbahn­trasse verantwortlich. Geld bekommt keiner dafür. Spaß macht es trotzdem.

Eigentlich studiert Johannes Schmidt Politik, Philosophie und Ökonomik. Eigentlich hat er selbst mal Musik gemacht. Eigentlich hat er nichts von dem gelernt, was er am Mirker Bahnhof tut. „Ich bin da so reingerutscht“, sagt er selbst über seine Arbeit. Sein Vorgänger Matthias Müller, Initiator der „Only Hut“-Reihe, hatte ihn quasi ins kalte Wasser geworfen. Trotzdem vertrauten ihm die Kol­leginnen und Kollegen. Eine ziemlich kühne Entscheidung, findet Schmidt rückblickend. Im Rahmen seines Frei­wil­ligen­dienstes hatte er vor rund zwei Jahren das stadtMacher-Festival mitorganisiert. „Matthias musste in einer Nacht-und-Nebel-
Aktion nach Hannover ziehen und hat gesagt: Hier ist das E-Mail-Postfach. Hör einfach zweimal die Woche Musik und dann läuft das schon“, erinnert sich Johannes Schmidt.

Bock drauf

Heute kümmert er sich um alles, was vor, während und nach den Veranstaltungen passiert. Einen großen Teil seiner Zeit nimmt die Beantwortung von Bandanfragen in Anspruch. Man könnte es auch so ausdrücken: Wer am Mirker Bahnhof Musik machen will, kommt an Johannes Schmidt nicht vorbei. Und um bei ihm Eindruck zu schinden, muss man sich schon etwas ins Zeug legen. Rund zwei- bis dreihundert Anfragen füllen monatlich das E-Mail-Postfach des Ehrenamtlers. Verpixelte Bilder, wacke­lige Handyaufnahmen oder auf die Schnelle hingerotzte Anschreiben fliegen sofort raus. „Wir versuchen einfach, ein bestimmtes Niveau zu halten“, so Schmidt. Auch wichtig: Für das Durcharbeiten der E-Mails braucht es Ruhe – und vor allem Lust auf Musik. Eine feste Zeiteinteilung passt da nicht ins Konzept: „Ich höre die Sachen, wenn ich Bock drauf habe. Alles andere macht keinen Sinn, dann quält man sich nur dadurch und trifft im schlimmsten Fall falsche Entscheidungen.“ Alle Anfragen, die seine Ohren und die seines Kollegen Julian Dell überzeugt haben, werden dann in einer sogenannten Bookingkonferenz mit allen Teammitgliedern besprochen. Erst dann steht einem Auftritt nichts mehr im Weg.

Bookinganfragen mit unrealistischen Zeitvorgaben wandern bei ihm übrigens besonders schnell in den virtuellen Papierkorb. In der Regel müsse man eine Vorbereitungszeit von etwa vier bis fünf Monaten einplanen, erklärt er. „Wenn man so kurzfristig auftreten will, ist das meistens ein Anzeichen dafür, dass jemand nicht professionell arbeitet.“ Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. So wurde im letzten Jahr innerhalb eines Tages ein Konzert auf die Beine gestellt. Eine Verkettung glücklicher Zufälle: „Wir waren alle etwas verkatert und wollten gerade alles von der Fahrradmesse aufräumen. Plötzlich stand da dieser Engländer in Jogginghose vor uns und fragte nach einem Auftritt am selben Abend.“

Trotz einer eindeutigen Absage hinterließ der besagte Musiker einen USB-Stick mit Songs seiner Band, der bei den Aufräumarbei­ten für die Hintergrundmusik der Utopia­stadt-Truppe sorgte. „Wir waren alle total baff und haben das dann noch am selben Tag organisiert.“ Die Musiker der Band namens Kings Parade hatten während einer Session in der Elberfelder Innenstadt mit improvisierten Flyern für das Konzert geworben. „Das war eines der schönsten Konzerte, die wir je hatten“, so Schmidt. In diesem Jahr ist die britische Indie-Band dann noch mal am Mirker Bahnhof aufgetreten. Für Johannes Schmidt ein absoluter Glücksfall – und definitiv die große Ausnahme. „Wir waren alle da, wir hatten alle Zeit und Lust drauf. Außerdem gab es an dem Abend keine anderen Termine. Es hat einfach gepasst.“

Letztendlich, so Schmidt, entscheide bei der Musikauswahl vor allem das eigene Bauchgefühl. Wichtig sei es, ein Gespür dafür zu haben, was zum Mirker Bahnhof und zum Publikum passt. Aktuell bedeutet das: Singer-Songwriter, Indie-Folk und Electro. „Ich glaube, die meisten kommen nicht hierher, weil sie eine bestimmte Band sehen wollen, sondern weil sie einfach wissen: Da läuft immer coole Musik.“ Immer wieder versuche man aber auch, das Publikum zu überraschen. Zur Not werden dazu die jüngeren Mitarbeiter eingebunden, zum Beispiel wenn es um Musikstile geht, mit denen Schmidt nichts anfangen kann, die aber eventuell andere Zielgruppen ansprechen könnten. Ein Beispiel dafür ist das Eintagesfestival Trassenjam, das auf Initiative eines Teammitglieds aus dem Gastronomiebereich veranstaltet wurde. „Weil wir uns nicht so gut mit Reggae auskennen, haben wir uns Hilfe vom Klub an der Gathe geholt. Und der Kollege hat sich voll reingehangen, dann geht so was.“

Die wohl bekannteste Reihe im Mirker Bahn­hof ist die „Only Hut“-Reihe. Bei den Konzerten in gemütlicher Wohnzimmer-Atmosphäre gibt es keinen festgelegten Ein­trittspreis, jeder wirft in den Hut, was er bereit ist für den Abend zu bezahlen. Dieses Geld bekommt zu hundert Prozent die Band. Bei „Only Hut“-Konzerten kann es auch mal passieren, dass man eine Band sieht, die kurze Zeit später richtig durchstartet: „Letztes Jahr haben noch die Strumbellas [Anm. d. Red.: Folkpopband aus Toronto] bei uns gespielt. Die waren in diesem Jahr auf Platz eins der deutschen Charts und würden jetzt den Rahmen im Hutmacher sprengen. Das ist natürlich super.“

Wilder Haufen

Eines darf man bei all dem nicht vergessen: Genau wie Schmidt arbeiten auch alle anderen Utopisten ehrenamtlich. Dadurch herrscht ein offenes Klima mit flachen Hierarchien. Das bedeutet nicht, dass jeder machen kann, was er will. „Hier sind nur Menschen, die das auch wirklich wollen. Eigentlich sind wir ein wilder Haufen, aber die Leute verlassen sich trotzdem aufeinander. Und meistens funktioniert es“, sagt Johannes Schmidt. Die Motivation ist also nicht der kommerzielle Erfolg, sondern die Leidenschaft für die Idee. Nur so kann Großes entstehen.